In Südamerika wimmelt es nur so von alten Kulturen. Von den Inka wirst du sicherlich schonmal gehört haben. Jedoch gab es zahlreiche Prä-Inka Kulturen, die vor Tausenden von Jahren den südamerikanischen Kontinent bevölkerten. Eine davon ist die sagenumwobene Tiwanaka-Kultur in der rauen Andenwelt Boliviens.
Ich stehe gelangweilt am Busbahnhof in La Paz. Gerade haben mein chilenischer Freund und ich erfahren, dass unser Bus zurück nach Peru erst am späten Abend fahren wird. Ich schlendere ein wenig durch die Halle des Terminals. Bolivianische Busbahnhöfe sind der Inbegriff von Gewusel. Schwer bepackte Cholitas (indigene Frauen) mit dem typischen farbenprächtigen Pollera (einem Überrock) und der obligatorischen Melone, Bombin genannt, auf dem Kopf, kämpfen sich durch die wartenden Massen. An allen Ecken schreien Fahrkartenverkäufer lauthals die Ziele aus, für die noch Bustickets zu haben sind : „Sucre, Sucre! Copa, Copa! Potosi, Potosi!“ Hier den Überblick zu behalten, fällt nicht leicht.
Die vermissten Frauen und Kinder von La Paz
Mir fällt eine Wand in der hinteren Ecke des Terminals auf, die mit Fotos von vermissten Personen, meist jungen Frauen und Kinder, bestückt ist. Hunderte von Suchanzeigen mit der Aufschrift „DESAPARECIDO“ kleben hier neben- und übereinander. Viele Suchanzeigen sind so alt, dass sie mittlerweile verblasst und halb abgerissen sind. Ich habe bereits von den grausamen Geschichten über Menschenhandel, Prostitution, und Zwangsarbeit gelesen, doch dieses traurige Bild unmittelbar vor Augen zu haben, berührt mich zutiefst. Wo sind all diese Menschen hin? Boliviens Grenzen verlaufen weitgehend im Dschungel oder in anderen dünn besiedelten und schwer zu kontrollierenden Gebieten. Wer hier Menschen unbemerkt über die Grenze bringen möchte, findet kaum Widerstand.
Auf der gegenüberliegenden Seite sticht mir das Bild einer steinernen Statue ins Auge. Tiwanaku steht in großen Buchstaben über einem vergilbten Foto. Das klingt wie eine versunkene Stadt aus einem der Indiana-Jones Filme und erregt meine Aufmerksamkeit. Mein Freund aus Chile gerät in Verzückung. „Tiwanaku gehört zu den ältesten Kulturen des Kontinents“ erklärt er mir und ist sogleich mit der Betreiberin des Stands im Gespräch. „Wieviel Zeit habt ihr?“ ist einer ihrer ersten Fragen und ehe wir uns versehen, haben wir eine Tour zu der bedeutenden Ruinenstätte dieser Prä-Inka-Kultur gebucht. „Ihr müsst euch beeilen – es geht sofort los!“
Auf nach Tiwanaku
Wir schultern unsere Rucksäcke und verlassen mit der Dame das Busterminal, wo an einer vielbefahrenen Straße bereits ein weißer Van auf uns wartet. Spontane Aktionen sind meist die besten, denke ich mir in diesem Moment und nehme auf dem Rücksitz des mit 8 Personen gefüllten Fahrzeugs Platz. Die Truppe ist bunt gemischt. Zwei Amerikaner, zwei Franzosen, ein Schwede, ein Israeli und die deutsch-chilenische Delegation sind an Bord.
Ich bin null vorbereitet, doch unser redseliger Guide Javier beginnt kurz nach dem Einstieg mit dem Geschichtsunterricht. Tiwanaku (auch Tiahuanaco genannt) liegt ca. 70km östlich der bolivianischen Hauptstadt La Paz entfernt nahe der Stadt Tiawanacu (das macht Sinn). Auf einer Höhe von 4.000 Metern liegt die sagenumwobene Ruinenstadt inmitten einer Hocheben der Anden. Tiwanaku, was übersetzt „Setz dich hin, kleines Lama“ bedeutet, ist die wichtigste Ausgrabungsstätte Boliviens.
Über das Alter dieser Kultur streiten sich bis heute die Wissenschaftler. Während einige von einer Entstehung um 8-10.000 vor Chr. ausgehen, nennen seriösere Quellen die Zeit 1500 v. Chr. bis 1200 n. Chr. Neben dem weit bekannteren Machu Picchu in Peru zählt Tiwanaku zu einer der bedeutendsten Stätten Südamerikas und gehört seit dem Jahr 2000 zum Weltkulturerbe der UNESCO. Für die Inka war Tiwanaku ein bedeutender Ort, weil sie glaubten, dass dies der Platz sei, an dem die Welt geschaffen wurde.
Dem Himmel so nahe
Dank des aufschlußreichen Vortrags von Javier ist meine Neugier auf Tiwanaku ins schier unermessliche gestiegen und ich bereue unsere Entscheidung, diese spontane Tour gebucht zu haben, keine Sekunde. Die vorbeiziehende Landschaft verzaubert mich. Den 4790 Meter hohen Chuqi Q’awa fest im Blick fahren wir durch das mit Ichu-Gras gesäumte Hochplateau. Riesige Lamaherden grasen am Wegrand und die Wolken hängen zum Greifen tief über dem Altiplano. Immer wieder bin ich fasziniert von dieser unwirklichen Gegend. Freiheit schreit es durch meinen Kopf, wenn ich hier oben bin. Nichts als Natur. Und da, wo sich Menschensiedlungen finden, haben sie sich an die rauen Gegebenheiten angepasst.
Tiwanaku – Zeugnis des alten Südamerika
Ein unscheinbares, von der Witterung angerostetes Schild weist den steinigen Weg nach Tiwanaku, das 3870 Meter hoch liegt. Wo an anderen Ruinenstätten Lateinamerikas bereits Schlangen von Menschen auf den Einlass warten, sind wir erst der zweite Van am heutigen Vormittag.
Wir parken nahe des Museo Litico Monumental, dem modernen, mit Spenden erbauten Haus – und Hofmuseum Tiwanakus. Der Star der Ausstellung ist die massive 7,30 Meter hohe Statue Monolito Bennett, die bis 2002 einen Platz in der Hauptstadt La Paz zierte und vor der Verwitterung und Zerstörung hierher gerettet wurde.
Die Statue trägt den Namen von Wendell Bennett, Archäologe des American Museum of Natural History in New York, der die mächtige Figur bei Ausgrabungen Ende Juni 1932 in den unterirdischen Tempeln von Tiwanaku entdeckt hat. Das Museum beeindruckt mich. Ich tauche tief in die Geschichte dieses besonderen Ortes ein. Das Museum beinhaltet eine große Sammlung von Artefakten, Töpfereien, Werkzeugen und Mumien, die hier vor Ort ausgegraben wurden.
Hoch oben auf der Akpana-Pyramide
Diesen Ort will ich sehen. Museum schön und gut, aber Geschichte zum Anfassen ist mir am liebsten. Wir betreten die Ruinenstätte von Tiwanaku. Drei vor sich hin kauende Lamas liegen wie ein platziertes Postkartenmotiv am Eingang der Anlage in der Höhensonne. Unser erstes Ziel ist die Akpana-Pyramide, die noch nicht völlig freigelegt ist. Sie ist das größte Bauwerk Tiwanakus mit einer Länge von ca. 205 Metern und einer Breite von ca. 185 Metern und besteht aus insgesamt sieben Terrassen. Über eine Treppe an der westlichen Seite gelangt man auf oberste Plattform, in die ein abgesenkter Tempel oder ein Wasserbecken eingelassen ist. Überreste von Lamas und Menschen sowie hunderte zerbrochene kunstvolle Keramiken, die mittlerweile im Museum stehen, deuten auf die religiöse Bedeutung der Pyramide hin.
Der Blick von hier oben auf die gesamte Anlage ist atemberaubend. Javier erzählt uns, dass erst ein Prozent der insgesamt 10km2 großen Gesamtfläche freigelegt worden sind. Dies macht das Sichtbare noch unfassbarer, als es ohnehin schon ist.
An dicken Steinmauern geht es am Kalasasaya-Tempel entlang. Östlich des Hauptplatzes liegt ein halb unterirdischer Tempel, von dem eine Treppe mit einem Tor heraufführt. Am Tag der Tagundnachtgleiche geht die Sonne genau im Zentrum dieses Tores auf.
Der versunkene Hof und rätselhafte Gesichter
Wir nehmen die Stufen hinunter zum zu einem halbversunkenen Tempel, dessen Innenhof mit dicken Mauern umrandet ist. Im Inneren befinden sich drei übermannsgroße Steinskulpturen in Form menschlicher Wesen. Man erklärt uns, dass hier wohl ein rituelles Zentrum der Tiwanaku-Kultur war. Ich bin vor allem von den 175 in der Mauer eingelassenen, steinernen Menschenköpfen fasziniert. Sie zeigen Gesichter unterschiedlichen Ursprungs, wobei einige durchaus Ähnlichkeit mit Alienköpfen (oder wie wir Menschen sie uns vorstellen) besitzen.
Es wird spekuliert, dass die Köpfe nahegelegenen Stämme der Region, sowohl als auch weit entfernte Stämme, wie Asiaten und Normannen, darstellen. Wir machen uns einen Spass daraus zu erraten, wer welches Volk sein könnte.
Aliens oder übermenschliche Kräfte?
Das Besondere an der Anlage ist, dass die über 100 Tonnen schweren Granitblöcke für die Errichtung der Pyramiden, Tempel und Figuren aus einem Steinbruch in über 20km Entfernung nahe des Titicaca-Sees herangeschafft wurden. Wie dies bewerkstelligt wurde, ist nach wie vor ein Rätsel, denn zu Zeiten der Tiwanaku-Kultur war das Rad noch gänzlich unbekannt. Mein chilenischer Freund ist der festen Überzeugung, dass es sich hierbei um außerirdische Kräfte handeln musste. Damit teilt er die Meinung vieler Pseudo-Wissenschaftler wie Erich-von-Däniken, der bis heute zu Tiwanaku die waghalsigsten Alien-Theorien phantasiert.
Fakt ist, dass bis heute die Wissenschaftler nicht erklären können, wie Andesit und Diorit, die zu den härtesten Gesteinen zählen, von den Menschen bewegt und so passgenau bearbeitet wurden.
Inti Punku – Das Wahrzeichen von Tiwanaku
Unsere internationale Truppe zieht weiter zur berühmtesten Sehenswürdigkeit Tiwanakus. Dem Sonnentor, auch Inti Punku genannt. Das knapp drei Meter lange und vier Meter hohe Tor wurde aus nur einem riesigen Andesitblock hergestellt. Durch ein früheres Erdbeben ist es mittlerweile in 2 Teile gerissen, was die Bewunderung der Baukunst aber nicht im geringsten schmälert.
In der Mitte des Tor thront das maskenhafte Gesicht des Schöpfergottes Wiracocha, rechts und links flankiert von zwei eingemeißelten Schlangenköpfen. Das Sonnentor war einst ein wichtiges Bauwerk zur Berechnung astronomischer Daten. So wussten die Bewohner von Tiwanaku bereits damals, dass das Jahr exakt 365,25 Tage hat. Ähnliche astrologische Fähigkeiten besaßen seinerzeit nur die Maya im fernen Mexiko.
Puma Punku und die H-Blöcke
Etwas abseits der Anlage liegt Puma Punku (Aymara: Puma für Puma und Punku für Tür, also soviel wie „Tür des Pumas“), der größte aus monolithischen Bauten bestehende Tempelkomplex von Tiwanaku. Überall liegen schwere Granitblöcke wie Bauklötze in einem Kinderzimmer. Einige sind bis zu 8 Meter lang und über 100 Tonnen schwer.
Das Mysteriöse – die fein geschnittenen, glatten Steinblöcke tragen keinerlei Meißelspuren, haben perfekte rechte Winkel und sind mit hoher Präzision aneinander gefügt. Einige sind so perfekt gefertigt, dass man nicht mal eine Nadel einklemmen könnte. Dieser Ort gibt uns allen einige Fragen auf, die aber bis heute selbst von renommierten Wissenschaftlern nicht gelöst werden konnten.
Wir sind am Ende der Tour begeistert von diesem Ort, der mehr Fragen als Antworten hinterlässt, aber gerade das macht Tiwanaku für mich zur faszinierendsten antiken Stätte Südamerikas, sogar noch vor Machu Picchu. Wenn du nach Bolivien reist, lasse Dir Tiwanaku auf keinen Fall entgehen.
3 Kommentare
Die Köpfe lassen mich an die Cabezas Clavas in Chavin de Huantar denken, oder ?
Ein super Artikel, den ich verschlungen habe. Vielen Dank !
Vielen lieben Dank, Martina! Das freut mich! liebe Grüße nach Chachapoyas!