Das Barrio Yungay zählt zu den traditionsreichsten Viertel Santiagos und ist eines der ersten Wohngebiete der Stadt, das nach dem Bau des Stadtzentrums Santiago Centro errichtet wurde.
Das im 19. Jahrhundert entstandene Viertel verdankt seinen Namen dem chilenischen Sieg in der Schlacht von Yungay, als die chilenischen Streitkräfte 1839 die peruanisch-bolivianische Konföderation bekämpften und siegreich zurückkehrten. In den 1940er Jahren begannen die Familien der Oberschicht, die in der Gegend lebten, sich nach Osten zu bewegen und ließen ihre farbenfrohen und prunkvollen Stadthäuser zurück. Der Putz blätterte im Laufe der Jahre ab. Im Gegensatz zu anderen historischen Stadtvierteln Santiagos mit einer ähnlichen Geschichte sind viele der Strukturen von Barrio Yungay jedoch weitgehend intakt geblieben, nachdem sie vom chilenischen Rat der Nationaldenkmäler geschützt wurden.
Die ruhigen Straßen des Barrio Yungay zeigen eine andere Seite von Santiago. Eine, die in der Hektik der pulsierenden Metropole oftmals übersehen wird. Das Viertel erstreckt sich von der Alameda im Norden bis nach Rosas, zwischen Matucama im Westen und Cumming im Osten. Dieses Rechteck der Stadt bietet keine schlanken, modernen Bürogebäude oder Blicke auf die Anden.
Es ist hingegen vollgepackt mit Geschichte und, wenn man genau hinsieht, neuem Leben. Das Viertel ist eine Schatzkammer der Straßenkunst. Von professionell gemalten Wandmalereien bis hin zu schnellen Zeichnungen. Hier findest du die schönsten urbanen Meisterwerke Santiagos.
Barrio Yungay – ein “Trend” Viertel
Es wird mittlerweile ein Trend, hier zu wohnen, meint meine Freundin Monicá. Es eröffnen immer mehr hippe Boutiquen, Cafés und Hostels. Trotzdem wirkt die ruhige, bescheidene Atmosphäre dieses alten Wohnquartiers eher charakteristisch für eine kleine Provinzstadt als für ein zentral gelegenes Viertel einer 7-Millionen Einwohnerstadt.
Ganze Blöcke liegen wie in einem typischen südamerikanischen Dorf hinter flachen Mauern verborgen. Die einzigen Erinnerungen an das moderne Leben erwecken, wenn man an offenen Türen oder Fenstern vorbeikommt und einen Blick auf ein Wohnzimmer erhascht, wo im Fernsehen die ach so beliebten beliebten Seifenopern laufen.
Parque Quinta Normal
Kein Ausflug nach Barrio Yungay ist komplett ohne einen Besuch von Santiagos ältestem Park, den Parque Quinta Normal, der 1841 errichtet wurde. “Ir a Matucana, pasear por la Quinta…” (Nach Matucana entlang der Quinta gehen) ist ein Vers aus dem Lied “Violeta ausente”, das die Folkloresängerin Violeta Parra sang, als sie durch Europa reiste und sich nach Santiago sehnte.
Doch was macht “La Quinta” bei den Bewohnern so beliebt? Vielleicht, weil er der erste öffentliche Park in Chile war. Oder wegen seinen mehr als 4.200 Bäumen, die aufgrund ihres Alters und ihrer Größe zweifellos die Protagonisten des Parks sind. Es gibt viel zu entdecken, denn der Park ist die Heimat von gleich drei Museen: Dem Eisenbahnmuseum, Wissenschaft- und Technikmuseum und dem Museum für Naturkunde. Wer nicht auf Kultur steht, kann alternativ Tretboot fahren oder das klassische Gewächshaus besuchen.
Museo de la Memoria y los Derechos Humanos
Schräg gegenüber des Parks liegt das Mueso de la Memoria y los derechos humanos. In der Militärdiktatur unter General Pinochet kam es zu Verfolgung, Folterung und Ermordung (häufig „Verschwinden“) von Oppositionellen. Im Museum werden diese Geschehnisse auf eine objektive Art und Weise aufgearbeitet. Zeitzeugen berichten, wie die Verhöre und die Folterungen abliefen. Wie sie gefangen wurden, tagelang mit verbundenen Augen und hungernd eingepfercht mit anderen Gefangenen in einer kleine Zelle stehen mussten. Um anschließend in Räume geführt wurden, wo sie die gequälten Schreie anderer Gefangener ertragen mussten oder selbst durch Schläge, Elektroschocks und ähnliches gefoltert wurden. Dies geschah in der Regel in Polizeistationen, welche in der Stadt lagen und während der Folterung laut Radio spielten, damit die Bevölkerung die Schreie nicht hörte.
Immer wieder sieht man die Frage „Wo seid ihr?“ in Verbindung mit dem Bild einer vermissten Person. Es wird auch geschildert, wie die Aufarbeitung stattfand. Der abschließende Bericht, in dem versucht wurde die Verbrechen, Menschenrechtsverletzungen und den Verbleib verschwundener Personen zu klären, trug den Titel „Nie wieder“.
Der älteste Friseursalon Chiles
Die Pasajes Patrimoniales, die sich durch das geradlinige Netz von Barrios Yungay und Barrio Brasil schlängeln, verleihen dem historischen Charme der Gegend ein überaus sehenswertes Element. Mit ihrer europäisch geprägten Architektur erinnern die Passagen eher an Prag oder Paris als an Santiago. Ich bin überwältigt von den Balkonen, Bögen, Fliesen und verschiedenen Ornamenten der bunten Stadthäuser.
Apropos Paris, Barrio Yungay ist auch die Heimat der Peluquería Francesa, eines über die Landesgrenzen hinaus bekannten französischen Friseursalons. Der Laden befindet sich seit dem 18. Jahrhundert im Viertel und seit 1925 am selben Ort. Die Einrichtung scheint sich seit dieser Zeit nicht geändert zu haben. Ein Paradies für jeden Vintage-Fan. Mechanische Barttrimmer, alte Trockenhauben und schwarz-weiß Bilder aus vergangenen Zeiten zieren das Geschäft.
Geschichtsstunde mit Cristián Lavaud
Das gleichnamige Restaurant neben dem Friseur lockt mit leckeren Aromen und augenzwinkernden Nippes. Die Wände sind mit Kunst und Antiquitäten überladen – von Nähtischen und Plattenspielern bis hin zu gußeisernen Pfannen und obskuren Musikinstrumenten. “Alles an den Wänden kann gegen einen entsprechenden Preis mit nach Hause genommen werden”, erzählt mir Cristián Lavaud. Der 50-jährige trägt einen Panamahut, eine weiße Leinenhose und sitzt entspannt auf einem alten Barhocker.
Er besitzt den Friseur, das Restaurant und ein kleines Geschäft, in dem er in bester Tante-Emma Manier Gourmetprodukte verkauft.
Ich bekomme einen kleinen Exkurs in Geschichte. Der Salon ist 145 Jahre alt und wurde von seinem Urgroßvater gegründet, der bereits als Baby mit seinem Großvater aus Bordeaux, Frankreich, nach Chile kam, um in der Weinindustrie in Lontué zu arbeiten. Bald darauf starb der französische Einwanderer, seine Witwe und sein Sohn Emilio (der Großvater von Cristián) wurden unter dem Schutz des französischen Konsulats nach Santiago versetzt und in der Straße von Santo Domingo vor dem Plaza Yungay untergebracht, wo der Betrieb als Friseur aufgenommen wurde.
Tradition mit einer Prise Moderne
Das Restaurant ist erst seit 2003 in Betrieb. “Wir fingen klein an und sind Stück für Stück gewachsen”, sagt Lavaud und fügt hinzu: “Wir begannen mit einem kleinen Blatt Papier, auf dem nur das Menü des Tages stand. Heute ist die Speisekarte einem Tagebuch nachempfunden und entwickelt sich Tag für Tag weiter. Neben dem breiten gastronomischen Angebot gibt es einen Tag, an dem chilenische Poesie vorgelesen wird. Außerdem werden Touren auf der historischen Route durch die Nachbarschaft organisiert. “Wir haben in das Erbe von Yungay investiert, was niemand getan hat”, sagt Cristián und meint, dass sie mittlerweile weltweit bekannt sind: “Der Lonley Planet hat über uns geschrieben. Nun sind etwa 30% unserer Kunden Ausländer”. Er wolle Leben und Bewegung in die Nachbarschaft zurückzubringen, aber seine historischen Qualitäten bewahren. Statt Gentrifizierung sieht er Restaurierung und Bewusstsein als Ziel. “Wir müssen das Alte bewahren und mit in die Moderne nehmen.”
Barrio Yungay fühlt sich warm und so herrlich anders an. Seine ruhige, kleinstädtische Atmosphäre erinnert an ein Santiago längst vergangener Zeit. Sein wahrer Charme liegt jedoch in der Koexistenz von Alt und Neu und den Menschen, die das Viertel bewahren. Ich hoffe, dass es noch lange so bleibt.
Meine Barrio Yungay Insidertipps:
- Fuente Mardoqueo
Wenn du nach einer Walking Tour durch das Viertel Hunger hast, findest du hier bei Fuente Mardoqueo die besten Sandwiches weit und breit. Libertad 441 - Espacio Gárgola
In diesem Herrenhaus aus dem Jahr 1920, das im Herzen des Yungay-Viertels liegt, treffen verschiedene künstlerische Ausdrucksformen wie Malerei, Fotografie und Musik aufeinander.
Maipú 357 - Cervecería Nacional
In der Cerveceria Nacional werden unzählige Biere aus den verschiedensten Regionen Chiles angeboten. Bierliebhaber kommen hier voll auf ihre Kosten. Es gibt aber auch gute Sandwiches und Pizzen. 2858 Compañía de Jesús - Verde que te quiero verde
Ein vegetarisches Restaurant, das sich durch Qualität und günstige Preise auszeichnet. Außerdem gibt es leckeres Frühstück, Kaffee, Kuchen, deutsches Brot und Orangensaft. Huérfanos 3020 - Corporación Cultural Matucana
In diesem Kulturzentrum finden regelmäßig Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen statt. Matucana 100