Vor zwei Wochen bin ich mit meinen chilenischen Freunden durch Santiago gelaufen und war desillusioniert. Was ist mit dieser Stadt passiert? Eine Schneise der Verwüstung zieht sich durch das Centro. Ausgebrannte Bushaltestellen, verschmierte Gebäude, wohin man blickt und die wichtigste Metro-Station der Stadt, Baquedano, verriegelt.
Trauer steigt in mir auf, weil ich diese Stadt liebe und sie mich fernab von zuhause immer so herzlich in ihre Arme geschlossen hat. Doch ich verstehe auch die Chilenen, die in einem Staat voller sozialer Ungerechtigkeiten leben müssen und nun dagegen protestieren. Chile, das Vorzeigeland des Kontinents, gepriesen als das stabilste Land Südamerikas mit starker Wirtschaft und einer steigenden Mittelschicht, steht auf gegen wachsende Preise und soziale Ungerechtigkeit.
In den deutschen Medien bekommt man nur von den ersten Tagen der Unruhen etwas mit. Doch bis heute (ich schreibe diesen Beitrag übrigens aus Santiago) kommt es vereinzelt noch zu Unruhen in Chile und viele meiner Leser fragen sich nach dem Warum und ob es aufgrund der aktuellen Lage möglich ist, nach Chile zu reisen.
Warum kommt es in Chile zu Unruhen?
Der Funke, der die Flamme des Zorns am 18.10.2019 entzündete, war eine 3%ige Erhöhung der U-Bahn-Tarife. Jetzt werden sich viele fragen, was an 3%, einer Steigerung von gerade mal umgerechnet 7 Cent, so schlimm ist, dass Menschen dafür auf die Straße gehen. Um das zu verstehen, muss man sich ein wenig mit der Geschichte Chiles beschäftigen.
Nach der gewaltsamen Machtübernahme Pinochets 1973 beförderte der Diktator in Chicago ausgebildete Wirtschaftswissenschaftler, auch bekannt als die Chicago Boys, schnell in Ministerposten. Einer davon war übrigens der Bruder des heutigen Präsidenten, José Piñera. Ein dickes Buch mit marktorientierter Politik, das sie zusammengestellt hatten, bekannt als El Ladrillo („der Ziegelstein“), wurde zu einer Blaupause, in der dargelegt wurde, wie die chilenische Wirtschaft zukünftig funktionieren soll.
El Ladrillo diagnostizierte den aufgeblähten Staat als Chiles größtes Problem – der öffentliche Sektor wurde zerschlagen. Zwischen 1973 und 1980 ging die Zahl der staatlich kontrollierten Unternehmen von 300 auf 24 zurück, und es gab große Kürzungen bei den Budgets für Infrastruktur, Wohnraum, Bildung und sozialer Sicherheit. Mit der Zeit jedoch begann das Land sich davon zu erholen und wuchs zwischen 1985 und 1997 um durchschnittlich 7% pro Jahr. Die Inflation war niedrig, und die Investitions- und Exportraten Chiles wurden die besten in Südamerika.
Das Problem: Dieses Modell deregulierte die Märkte und privatisierte soziale Sicherungssysteme. So gut wie alle Universitäten und Kliniken des Landes befinden sich in privater Hand und wollen natürlich Profit machen. Viele Chilenen, die diese Leistungen beziehen möchten, benötigen Kredite, leben mit hoher Verschuldung und zahlen daher mehr (wie z.B. Hochschulbildung oder Gesundheitsfürsorge) als Reiche, die unabhängig von Krediten sofort bezahlen können.
Chile ist berüchtigt für seine Einkommensungleichheit: Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahren immer mehr vergrößert. Ein Prozent der chilenischen Bevölkerung verdient 33% des Reichtums des Landes und macht es damit zum ungerechtesten Land aller OECD-Länder.
Der Schrei nach Gerechtigkeit
Der Großteil der Bevölkerung fühlt sich von der politischen Macht, die in der Elite stark konzentriert ist, ausgeschlossen und ignoriert. Sie fühlen sich von Unternehmen und Politikern betrogen und ausgebeutet. Aber vielleicht am wichtigsten ist, dass sie sich in den besonders wichtigen Bereichen, Bildung und Gesundheit, diskriminiert und gedemütigt fühlen und bezahlbare oder kostenfreie staatliche Lösungen fordern.
Nach 12 Tagen Massenprotesten und Straßengewalt haben sich die schlimmsten Unruhen Chiles seit Jahrzehnten in einen landesweiten Aufstand verwandelt, der dramatische Veränderungen des wirtschaftlichen und politischen Systems des Landes erfordert.
Am Freitag, dem 25. Oktober, marschierten schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen aus Protest durch Santiago, eine Zahl, die mehr als 5% der Bevölkerung des Landes ausmacht. Dies war die größte Demonstration dieser Art seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie nach der Pinochet-Diktatur der 70er und 80er Jahre.
Wasserwerfer und Tränengas wurden eingesetzt, um die Demonstranten zu zerstreuen, und die Zahl der Todesopfer liegt derzeit bei 29, wobei Hunderte von ihnen vermutlich teilweise ein Auge verloren haben, weil sie von Gummigeschossen getroffen wurden. Vorwürfe der Anwendung extremer Gewalt und Folter durch Militär und Polizei werden vom Instituto Nacional de Derechos Humanos (Nationales Institut für Menschenrechte) untersucht, während die UNO auch ein Team zur Untersuchung dieser Vorwürfe entsendet.
Wie geht es nun weiter in Chile?
Am Montag, dem 28. Oktober, entließ Piñera acht Mitglieder seines Kabinetts und ersetzte sie, um die Proteste zu unterdrücken. Viele Demonstranten fordern jedoch stattdessen seinen Rücktritt. Mittlerweile (Stand Ende Januar) liegt seine Zustimmung in der Bevölkerung bei gerade mal mickrigen 6%.
Am Freitag, dem 19. November, sicherten sich die Demonstranten die Zusage der Regierung, dass im April 2020 ein Volksentscheid über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung abgehalten wird, wobei das für die neue Verfassung zuständige Gremium im Oktober desselben Jahres gewählt und das Dokument 2021 zur Schlussabstimmung gebracht wird.
Inwieweit sind Reisende von den Unruhen in Chile betroffen?
Während die Proteste – hauptsächlich Freitags um die Plaza Italia in Santiago – weitergehen, läuft die gesamte touristische Infrastruktur der Stadt inzwischen wieder ganz normal. Auch der Rest des Landes kann ohne große Einschränkungen und Sicherheitsbedenken bereist werden. Die Chilenen freuen sich über jeden Touristen im Land und die Gastfreundlichkeit ist ununterbrochen spürbar.
Brandstiftung und Plünderungen fanden statt, als die Proteste in vollem Gange waren. Straßensperren hinderten Busse und andere Verkehrsmittel an der Fahrt in verschiedene Teile des Landes, doch dies ist nicht mehr der Fall.
Hier kannst du dich informieren: Im Falle eines erneuten Ausbruchs von Protesten hat die chilenische Nachrichtenagentur T13, eine fortlaufende Berichterstattung und Updates auf ihrer Website (in spanisch), ebenso wie BioBio Chile auf ihrem Twitter-Account. Der Twitter-Account der Stadtverwaltung von Santiago enthält auch Informationen über den Status in der Hauptstadt, ebenso wie Disfruta Santiago.
Aktuelle Situation in Chile im Überblick
- Die internationalen und nationalen Flüge verkehren nach Plan.
- Der Ausnahmezustand, der im Oktober gleich zu Beginn der Unruhen verkündet worden war, wurde im November aufgehoben, ebenso wie die Ausgangssperre.
- Die Flughafentransferdienste einschließlich TransVip und Delfos funktionieren weiterhin wie gewohnt und können online gebucht werden.
- Die öffentlichen Verkehrsmittel, einschließlich der U-Bahn und der Dienstleistungen zum und vom Flughafen, sind den ganzen Tag über regelmäßig in Betrieb. Die meisten U-Bahn-Stationen in der Stadt sind wieder in Betrieb, aber du kannst hier überprüfen, welche Stationen geschlossen bleiben.
- Die Busbahnhöfe in Santiago sind ganz normal geöffnet.
- Das Zentrum und die Innenstadt von Santiago trugen die Hauptlast der Demonstrationen. Die Demonstrationen fanden (und finden jetzt auch in kleinerem Umfang statt) rund um die Plaza Italia (am südlichen Rand des Barrio Bellavista) statt.
- Diese finden jeden Freitag ab etwa 16.00 Uhr statt, also meide diesen Platz und die Straßen um ihn herum.Banken,
- Geschäfte und Supermärkte haben, bis auf einzelne schwerere beschädigte, normal geöffnet.
Würdest du empfehlen, nach Chile zu reisen?
Ich bin gerade dort, also klares JA! Ich habe vereinzelt Proteste mitbekommen, aber das Leben läuft aktuell ganz normal ab. Seitdem der Präsident vor einigen Wochen einer Volksabstimmung über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zugestimmt hat, hat sich die Situation erheblich beruhigt. Friedliche Versammlungen und Proteste für bessere Löhne, fairere Chancen und ein würdigeres Leben werden auch nach wie vor stattfinden, auch mit kleinen Ausschreitungen.
Wenn du eine Reise für die nächsten Monate gebucht hast, ist es sehr unwahrscheinlich, dass du von der aktuellen Situation betroffen bist. Es wird jedoch empfohlen, die Situation im Auge zu behalten, sich zu informieren und auf die entsprechenden Reisehinweise zu achten.
Eine der besten Möglichkeiten, die Ungleichheit zu bekämpfen, ist der Tourismus – durch Übernachtungen in lokalen Hotels und Hostals, Essen in einheimischen Restaurants und Erlebnisse mit lokalen Tour-Anbietern. Die Besuche sind jetzt in dieser Zeit besonders wichtig und helfen den Menschen vor Ort.
Sicherheitsmaßnahmen vor Ort
- Achte immer auf die Umgebung, um zu vermeiden, dass du unbeabsichtigt in einen Protest gerätst.
- Beteilige dich nicht aktiv an Demonstrationen. Wenn du bei der Teilnahme an einem Protest erwischt wirst, droht Inhaftierung und ein Rückkehrverbot.
- Es existiert Filmmaterial, das zeigt, wie die Polizei auf Protestierende schießt, so dass es äußerst gefährlich ist, sich an einer Demonstration zu beteiligen.
- Wenn du dich in der Nähe einer Demonstration aufhältst, suche sofort einen sicheren Ort, an dem du dich schützen kannst. Dies kann ein Café oder Restaurants oder ein anderes Gebäudes in der Nähe sein. Ansonsten versuche, dich schnell von dem Ort zu entfernen.
Dieser Artikel soll keine politische Haltung zur Situation einnehmen, aber ich unterstütze jeglichen friedlichen Protest der chilenischen Bevölkerung, die es verdient, ein menschenwürdiges Leben zu führen, frei von Ungleichheit und mit vollem Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und einem angemessenen existenzsichernden Lohn.
Zu den Hashtags auf Twitter und Instagram, die von den Protestierenden benutzt werden und einen weitaus breiteren Überblick über die Geschehnisse geben (und über das, was derzeit nicht in den Medien berichtet wird), gehören #ChileDespierta und #ChileNoEstaEnGuerra.
Wenn du noch mehr Fragen zu den Unruhen in Chile hast, schreibe mich gerne an oder in die Kommentare!
4 Kommentare
Deine Zusammenfassung der Situation in Chile ist sehr gut, danke. Ich bin seit zwei Monaten in Chile unterwegs und kann nur unterstützen was du schreibst. Keine Einschränkungen, freundliche Menschen und ein wunderschönes Land.
Vielen Dank, Dorothee und es freut mich sehr, dass dir dieses wunderbare Land gefällt! Weiterhin gute Reise.
Hi Daniel,
danke für den Bericht, würde ich persönlich etwa genauso einschätzen. Habe fast den ganzen Januar in Chile verbracht. Die Menschen sind so herzlich wie zuvor, allerdings spürt man, dass die Lage bedrückt ist. Meine Freunde leben zum Großteil außerhalb des Zentrums und sind zum Glück nicht von der Lage betroffen. Mein Freund und ich sind eines Donnerstagnachmittags allerdings fast in eine Demo geraten, was ich nicht unbedingt noch einmal erleben möchte. Man hat uns gesagt, dass wir uns am besten Nachmittags nicht mehr in der Nähe von Baquedano aufhalten sollten, gerade Donnerstag und Freitag nach 16 Uhr gibt es da meistens Proteste inklusive Wasserwerfern etc.! Im Süden war bis auf die Verwüstungen in Valdivia alles beim Alten! Und in Pucón wurde der Ironman abgesagt, sodass dort aktuell kaum ein Touri anzutreffen ist. Die Hostels, Hotels und Cabañas leiden sehr darunter, dass der erwartete Ansturm ausgeblieben ist.
Trotz alledem könnte ich auch nur jedem sagen, er oder sie solle die Reise nicht absagen oder sich eine buchen! 🙂
Wünsche dir weiterhin eine schöne Zeit in Chile und Südamerika!
Liebe Grüße
Indre