Hat Peru Trekking-Fans noch mehr zu bieten als Machu Picchu? Um das rauszufinden ist Gastautor Selim Baykara in den Süden Perus gereist. Mit Zelt und Rucksack hat er die hierzulande kaum bekannte Cordillera Vilcabamba im Alleingang in drei Wochen durchquert. Ein Trekking-Abenteuer in den Anden weit abseits der bekannten Wege.
Als ich dem König der Anden begegne, ist es später Nachmittag und der Himmel ist grau. Nebelschwaden ziehen durch das einsame Hochtal. Das spröde Puna-Gras auf den Hügeln ist an vielen Stellen verbrannt und geschwärzt – die Blitze müssen mit furchtbarer Kraft eingeschlagen sein.
Ich fühle mich ausgesetzt, wie ein Eindringling, hier oben auf mehr als 4.500 Metern über dem Meeresspiegel. Seit ich vor drei Tagen im Sonnenschein das Dörfchen Huancacalle hinter mir ließ, habe ich kein menschliches Wesen mehr gesehen. Mich fröstelt in der dünnen Luft, wie in Zeitlupe schleiche ich einen weiteren steilen Hochpass empor. Ich glaube es ist der dritte an diesem Tag. Und
dann – von einem Moment auf den nächsten, – stehe ich ihm gegenüber.
Seine Majestät scheint mich nicht zu bemerken. Oder wenn, dann macht er zumindest keine Anzeichen, dass meine Anwesenheit ihn irgendwie stören würde.
Keine fünf Meter von mir entfernt dreht der mächtige Kondor seelenruhig seine Runden um meinen Kopf. Ein unglaublicher Moment – ich stehe auf der Kuppe eines windumtosten Gebirgspasses und bin dem König der Anden so nahe,
dass ich ihn fast berühren kann. Ich kann dem Raubvogel buchstäblich in seine Augen schauen, und sehe seinen scharfen Schnabel und jede einzelne seiner gefiederten Krallen so deutlich wie unter einem Vergrößerungsglas.
Und was macht der Kondor? Gar nichts. Er fliegt einfach weiter im Kreis herum und beachtet mich überhaupt nicht. Das hier ist sein Reich und er scheint genauso gut wie ich zu wissen, dass das kein Ort ist, an dem Menschen länger bleiben dürfen. Ich schaue auf eine schier endlose karge Hochebene, über der sich auf allen Seiten die vergletscherten Gipfel der Nevados erheben.
Ringsherum ein fast undurchdringliches Netz aus steilen Tälern und abgrundtiefen Schluchten, das sich über Dutzende von Kilometern hinzieht. Ich bin im Zentrum der Cordillera Vilcabamba, dem vielleicht einsamsten Ort der peruanischen Anden.
Mit Rucksack und Zelt von Choquequirao bis zum Sonnentor von Ollantaytambo
Rückblende: Vor 8 Tagen bin ich in dem Dörfchen Cachora mit einem knapp 20 Kilogramm schweren Rucksack voll Proviant und kompletter Zeltausrüstung gestartet. Cachora ist Ausgangspunkt für die Wanderung zur Inka-Stadt von Choquequirao, der kleinen Schwester von Machu Picchu. Ein beschwerlicher Marsch, der über 1.500 Meter tief in die Schucht des Rio Apurímac hineinführt und auf der anderen Seite die gleiche Distanz wieder aufsteigt.
Für mich ist das aber erst der Anfang einer langen Reise. Meine Idee: Von Choquequirao will ich die komplette Cordillera Vilcabamba von West nach Ost durchqueren. Über 200 Kilometer auf den alten Wegen der Inka bis zum Sonnentor von Ollantaytambo – mein ganz persönlicher Inka-Trail auf unbekannten Wegen abseits der Massen. Eine große Reise zu Fuß durch das Reich der letzten Inka.
Bei westlichen Touristen ist die Cordillera Vilcabamba, das Hochgebirge 70 Kilometer nordwestlich der alten Inka-Hauptstadt Cusco, kaum bekannt. Zu sehr steht Machu Picchu im Zentrum der Aufmerksamkeit, als dass noch viel Platz für anderes wäre. Dabei hat die Vilcabamba-Region eine unglaublich faszinierende Geschichte.
Nach der Eroberung von Cusco durch die Spanier im Jahr 1533 flohen die überlebenden Inka mitsamt ihrem Herrscher Manco Cápac in diese wilde Bergwelt, um dort ein neues Reich zu gründen. Und dabei waren sie gar nicht so erfolglos: Immerhin vier Jahrzehnte leisteten die Inka den spanischen Besatzern aus dem Zentrum dieser Berge Widerstand, bauten neue Städte, neue Straßen, neue Heiligtümer inmitten der wohl unwahrscheinlichsten und unzugänglichsten Landschaft, in der jemals jemand einen Staat errichten wollte.
Und all das wartete bis heute nahezu unerforscht auf jeden Besucher, der genug Fantasie hatte, sich eine Wanderung durch diese Berge vorzustellen. Als ich dann auf den Karten auch noch die passenden Wege durch das Gebirge entdeckte, war mir klar: Das ist das Abenteuer, auf das ich seit Jahren gewartet habe.
In Cusco angekommen, stoße ich bei den Agenturen und Guides mit meiner Idee wie erwartet auf taube Ohren. „Estas loco, amigo“. Du bist total verrückt. Das ist so ungefähr das, was ich in verschiedenen Abstufungen höre, als ich mich einen Nachmittag lang in der Calle de los Procuradores umhöre, ob meine geplante Route realistisch ist.
Naja. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich damit auch gerechnet. Die Guides sind auf Touristen vorbereitet, die auf dem Inka-Trail wandern wollen, vielleicht auch noch auf dem Salkantay Trek oder rund um den Ausangate, wenn sie sich besonders abenteuerlich fühlen. Ein Typ, der mal eben im Alleingang durch das komplette Vilcabamba-Gebirge latschen möchte, passt da nicht so ganz ins Bild.
Immerhin verrät mir der Besitzer meines Hostels, dass es genügend kleine Dörfer in den Bergen gibt, wo ich zur Not Proviant kaufen kann. In meinen Karten ist nichts davon eingetragen, aber auch das war mir irgendwie klar: Dass das eine Reise ins Unbekannte wird. Genau die Sorte Trip, die man in Europa kaum noch haben kann, selbst wenn man es wollte.
Tiefe Schluchten, steile Berge – und viele Moskitos
Was mir auch relativ schnell klar wird: Das Ganze wird kein Spaziergang. Schon der Weg nach Choquequirao ist nicht ohne und es ist kein Wunder, dass nur wenige Leute diesen 2-tägigen Gewaltmarsch auf sich nehmen. Und danach geht es munter immer so weiter. Schluchten, Pässe, Maultierpfade, die sich in nicht enden wollenden Zickzack die Berghänge hinaufschlängeln. Ein heftiger Anstieg nach dem anderen.
Und dann erst die Moskitos! Winzig kleine Biester, eine Sorte, die ich noch nie gesehen habe, unglaublich hartnäckig und in solchen Scharen, dass man sie unmöglich vertreiben kann. „Pumahuacachi“ werden sie in der Sprache der Einheimischen genannt. Die Mücke, die selbst den Puma zum Weinen bringt – und unbedarfte Wanderer aus Westeuropa natürlich erst recht.
Am Boden der 2.000 Meter tiefen Schlucht des Rio Blanco ist die Luft so voll von den Moskitos, dass ich mich kaum traue zu atmen. Und obwohl ich mich fünfmal täglich mit hochprozentigem DEET einsprühe, sehen meine Arme und Beine nach ein paar Tagen wie ein Schlachtfeld aus.
Aber was sind all diese Strapazen im Angesicht der unglaublichen Eindrücke, die ich jeden Tag habe? Die magischen Nächte unter einem klaren Sternenhimmel voller fremder Konstellationen. Die Schönheit und unglaubliche Weitläufigkeit der Anden. Die alten Inka-Wege aus Stein, so kunstvoll angelegt, dass sie selbst im rauen Klima auf über 4.000 Metern die Jahrhunderte erstaunlich gut überdauert haben. Die winzigen Dörfchen, die bis heute nur per Maultier erreichbar sind und in denen die alten Traditionen noch sehr lebendig sind.
In dem Weiler Maizal sitze ich abends mit einer Gruppe Peruaner aus Ayacucho im Gemeinschaftsraum der Familie Perez und amüsiere mich über die Meerschweinchen-Horde, die unter der Küchendiele auf dem Fußboden herumwuselt. Allerdings nur so lange bis mir die Hausfrau erklärt, was mit den Meerschweinchen passiert. „Aqui los comemos“. Ah ja… na dann guten Appetit. Die Cuys, wie sie in Peru genannt werden, sind hier offensichtlich keine Haustiere, sondern schlicht und einfach zum Verzehr bestimmt.
Vitcos: Der Palast der letzten Inka-Herrscher im Vilcabamba-Tal
Ein paar Tage später erreiche ich das Vilcabamba-Tal im Herzen der Gebirgskette. Ein herrlicher Ort mit mildem Klima, mitten in den subtropischen Bergregenwäldern der „Ceja de la Selva“. Ein wunderbar poetischer Ausdruck, in den ich mich sofort verliebe: Die „Augenbraue des Waldes“. Gemeint ist damit der höchstgelegene Teil des peruanischen Regenwaldes, dort wo der Wald auf die Anden, die „Selva“ auf die „Sierra“ trifft.
In dem verschlafenen Dörfchen Huancacalle gibt es mit der „Hospedaje Sixpack Manco“ sogar ein kleines Hostel, in dem ich zwei Nächte bleibe. Vom Dorfzentrum spaziere ich am nächsten Tag durch die Wälder zum Palast von Vitcos, der Residenz des Inka-Herrschers Manco Cápac. Außer mir ist kein Mensch da, auch nicht in dem angrenzenden Heiligtum von Yurak Rumi. Der riesige Monolith mit seinen rätselhaften in den Fels geschlagenen Nischen und Stufen sieht fast so aus, als hätten Außerirdische ihn in dem idyllischen tropischen Tal zurückgelassen.
Hinter Huancacalle geht es wieder ab in die Berge und hier, an einem späten Nachmittag auf über 4.500 Metern, mitten in der einsamsten Bergwelt, die ich jemals gesehen habe, habe ich dann die Begegnung mit dem Kondor. Ich kann mich kaum losreißen. Und eigentlich würde ich gerne länger bleiben, um an einem der eisblauen Seen auf dem Hochplateau zelten.
Aber das Wetter ist ungemütlich und so ganz behaglich fühle ich mich an diesem kalten, nebligen Ort auch nicht. Also steige ich durch das tropisch-warme Saksara-Tal bis nach Santa Teresa ab. Zwei Tage später hat mich die Zivilisation wieder – zumindest fürs Erste – und natürlich gönne ich mir auch den Abstecher nach Machu Picchu.
Nach dem friedlichen Vilcabamba-Tal und der Bergeinsamkeit der letzten Tage lässt mich der Rummel rund um die berühmteste Sehenswürdigkeit Südamerikas ehrlich gesagt ein bisschen kalt. Aber ja, man muss es bei einem Peru-Besuch wohl schon gesehen haben. Und architektonisch macht die Stadt schon was her. Das Highlight meines Trips ist es aber nicht – das soll erst noch kommen.
Auf unbekannten Wegen durch den wilden Teil der Anden
Der Weg von Machu Picchu nach Ollantaytambo stand vor meiner Exkursion unter einem großen Fragezeichen. In den Karten hatte ich keine verlässlichen Wege entdeckt. Nur einen alten Pfad, der nach Süden durch das unerschlossene Tal des Aobamba bis zur Nordostflanke des Nevado Salkantay führen soll – gerade die andere Seite des bekannten Salkantay-Treks. Und wie es der Zufall will, existiert dieser Weg tatsächlich.
Wobei „Weg“ eigentlich das falsche Wort ist. Es ist kaum mehr als ein vager Dschungelpfad über wackelige Hängebrücken und durch die steilen, dicht bewaldeten Hänge dieses Tals. Über 3.000 Höhenmeter überwinde ich bis zum nächsten Pass. Ein echtes Abenteuer und ein unglaublich harter Trek, der noch härter wird, weil Teile des Wegs durch Erdrutsche weggebrochen sind. Aber die Landschaftseindrücke sind einfach nur unglaublich.
Ich laufe mitten durch den tropischen Regenwald, hunderte Meter unter mir der rauscht der wilde Rio Aobamba, gleichzeitig blicke ich auf die vergletscherten Gipfel der Berge, die sich steil über den Seiten des Tals erheben. Was für eine Mischung! Da stört es mich auch kaum, dass ich keine guten Zeltplätze entdecke und zwei Tage direkt auf dem Weg übernachten muss, weil es sonst einfach nicht genug Platz gibt.
Wenn ich gedacht hätte, dass das Aobamba-Tal schon einsam wäre, werde ich kurz darauf eines Besseren belehrt. Der letzte Teil meiner Wanderung führt entlang der Bergmassive Nevados Palkay und Huayanay durch das Hochland 2.000 Meter über Ollantaytambo – eine Landschaft so abgelegen und fremdartig, dass ich mir hier wirklich wie auf einem anderen Planeten vorkomme.
Endlose spröde, gelb-braune Hügellandschaften aus denen unvermittelt gezackte Basaltfelsen wie Reißzähne aus dem Boden ragen. Rostrote Bergflanken, die auch auf dem Mars nicht Fehl am Platz wirken würden. Und dazwischen immer wieder die gletscherbedeckten Felspyramiden eines namenlosen Berggipfels.
Orte, die auf keiner Karte auftauchen
Aber auch in dieser Einöde haben die Inka ihre Spuren hinterlassen: Ich komme an einem alten steinernen Kanal vorbei, in dem das Wasser plätschert – und ich treffe sogar ein paar Menschen. Der Campesino Eusebio und seine Frau leben hier oben mit ihren Schafen und erzählen mir, dass dieser Ort, der auf keiner Karte auftaucht „Chuncucancha“ heißt.
Ein Ort ohne Strom, ohne Netzempfang, ohne irgendwelche Errungenschaften der Zivilisation, völlig abgeschieden von der Außenwelt, obwohl Ollantaytambo nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt liegt. Hier jedoch, 2.000 Meter höher und ohne Straßen, heißt das im Endeffekt: In einer anderen Welt. Fast bedauere ich es ein bisschen, dass ich schon bald wieder selbst in diese andere, moderne Welt absteigen werde. Andererseits freue ich mich aber doch ein bisschen auf die heiße Dusche, die da unten auf mich wartet.
Eusebio begleitet mich noch ein Stückchen auf meinem Weg, schließlich habe ich den letzten Pass überwunden. Der Pfad führt auf einem schmalen Gebirgsgrat hoch über dem Tal entlang und dort in der Ferne erblicke ich endlich das Ziel meiner Reise – das Sonnentor von Ollantaytambo.
Drei Stunden später habe ich das Heiligtum erreicht. Stufen führen zu einer steinernen Plattform, direkt gegenüber auf der anderen Seite des Urubamba-Tals funkeln die vereisten Flanken des Nevado Verónica im Licht der Nachmittagssonne. Ich stehe im kalten Wind und lasse meinen Blick ein letztes Mal über die mächtigen Gipfel der Cordillera Vilcabamba schweifen.
Eine erhabene Stimmung liegt in der Luft. Ich bin nicht abergläubisch, aber fast habe ich das Gefühl, dass ich beobachtet werde. Für die Inka waren diese Berge nicht einfach nur unbelebte Felsen, sondern Heimat der Götter, ja sogar Gottheiten selbst – die „Apus“.
Ich denke an die vergangenen drei Wochen zurück und danke den Apus, dass sie mich wohlbehalten durch diese wilde Bergwelt geleitet haben. Weit unten im Tal höre ich das Pfeifen der Eisenbahn, die am Urubamba entlang nach Machu Picchu fährt. Es ist noch ein langer Weg und Zeit zu gehen. Aber ich bin mir sicher, dass die Apus auch auf dem letzten Stück über mich wachen werden.